198 §. 73. Die Kreuzzüge.
wo der Heiland der Welt sein Erlösungswerk vollbracht hatte,
ein Gegenstand der Verehrung gewesen; und schon Constan-
tin's Mutter, die Kaiserin Helena, hatte über der Stelle,
die man für Christi Grab hielt, eine Kirche bauen lassen, in
welcher die nach dem Morgenlande pilgernden Christen ihre
Andacht verrichteten. Weil man sich die Andacht an diesen
Orten als ein besonderes Verdienst vor Gott anrechnete, so
wurden die Wallfahrten nach dem heiligen Grabe immer häu-
figer; selbst als die Araber das Land einnahmen und 637
Jerusalem eroberten, unterblieben sie nicht, weil auch die
Araber vor dieser Stätte Ehrfurcht hatten und darum die
Pilger ungestört ließen, selbst als diese um das Jahr 1000,
getrieben von der Erwartung der zweiten Zukunft Christi,
in zahllosen Schaaren dorthin strömten, um dieses von ihnen
mißverstandene Ereigniß im gelobten Lande selbst abzuwarten.
Als aber im Laufe des 11. Jahrhunderts das Chalifat
von Kairo (welchem Ägypten und Syrien unterthan war)
seine Herrschaft über Palästina durch die seldsch u ckischen
Türken verlor, und Jerusalem 1079 in die Gewalt dieser
Türken oder Sarazenen kam, so wurden vie christlichen
Pilger von denselben so gedrückt und grausam mißhandelt,
daß ihre Klagen ganz Europa mit Mitleid und Entrüstung
erfüllten und der Wunsch entstand, das heilige Land den
Ungläubigen zu entreißen. Schon Papst Sylvester Ii und
Gregor Vii hatten die Christenheit ermuntert, zum Schutze
der Pilger die Waffen zu ergreifen; aber erst des ans dem
Morgenlande zurückgekehrten französischen Pilgers Peter
von Amiens feurig-beredte Schilderungen von dem Elende
der dortigen Christen hatten Erfolg. Sie brachten auf der
.Kirchenpersammlung zu Clermont, auf welcher Papst Ur-
ban Ii die Christenheit zur Befreiung des heiligen Grabes
aus der Gewalt der Türken aufforderte, die Franzosen in
eine solche Begeisterung, daß eine große Menge sich zu diesem
Zwecke das Kreuz aus die Schultern heften ließ, zumal diese
Kirchenversammlung jedemtheilnehmer vollkommenen Sünden-
ablaß zugesichert hatte.
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Extrahierte Personennamen: Helena Gregor_Vii Gregor Peter
von_Amiens
Extrahierte Ortsnamen: Christi Jerusalem Christi Kairo Syrien Jerusalem Europa Clermont
§. 73. Die Areuzzüge.
201
ternehmen sich verstehen, und Palästina blieb von nun an
in den Händen der Ungläubigen.
So viel Menschenverlust Europa durch die Kreuzzüge er-
litt, so hatten sie doch auf die Entwickelung der Bildung
unberechenbaren Einfluß.
1) Sie begründeten, außer den vorübergehenden
christlichen Neichen im Orient, die christlichen Königreiche
Portugal und Sizilien, und veranlaßten überhaupt
in mehreren älteren Reichen, besonders Asiens und Nord-
afrika's, große Veränderungen;
2) sie brachten das Morgen- und Abendland in größere
Berührung und Annäherung, und gaben durch die vermehrte
Kenntniß fremdländischer Erzeugnisse dem Handel, dem
Gew erbwesen und dem Ackerbau —, durch die nä-
here Bekanntschaft mit fremden Ländern und Völkern und
ihren Sitten, Gebräuchen und Kenntnissen den Wissen-
schaften und Künsten einen außerordentlichen Auf-
schwung: besonders reich und mächtig durch den Handel
wurden Venedig, Genua und Pisa;
3) sie beförderten den Gemeingeist, die Freiheit
und die Macht des Städtewesens, und legten da-
durch, daß Leibeigene, die das Kreuz nahmen, frei, wurden,
oder daß viele nach dem Morgenland ziehende Herren ihre
Leibeigenen vorher frciließen, den Grund zum nachmali-
gen freien Bauernstände; -
4) sie veredelten das Ritterwesen, indem die Rit-
ter in den Kämpfen gegen die Unterdrücker der christlichen
Religion für ihre noch rohe Thatkraft ein höheres Ziel fan-
den, und sich als eine große, durch alle christlichen Lande
reichende Körperschaft fühlen lernten: dazu trugen vor-
züglich die drei geistlichen Ritterorden bei, der Tempel-
Herrnorden, der Johanniterorden und der deut-
sche Orden, welche zum Schutze bedrängter und kranker
Pilger errichtet und nachher durch Güterbesitz sehr mächtig
wurden.
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Extrahierte Personennamen: Palästina
Extrahierte Ortsnamen: Europa Orient Portugal Sizilien Asiens Genua
202
§. 73. Die Kreuzzüge.
Den größten Vortheil zunächst zog die Hierarchie
aus den Kreuzzügen, indem der Papst es war, der diesel-
den anordnete, sie durch seine Vertreter (Legaten) leitete,
sowie auch die Streitigkeiten unter den Kreuzfahrern schlich-
tete, und überhaupt seinen Befehlen, ungeachtet öfteren Wi-
derstrebens der Könige und Fürsten, in der Regel durch die
ihm zu Gebote stehenden Mittel Gehorsam zu verschaffen
wußte, und so das Ansehen eines richterlichen Oberherrn der
ganzen abendländischen Christenheit bekam, während der Kle-
rus durch Kauf, Geschenke und Vermächtniffe überreich an
Gütern und Vorrechten wurde.
Sittlichkeit und Religion aber erlitt aus dieser Berüh-
rung mit dem Morgenlande durch die Vervielfältigung aber-
gläubischer Auswüchse und durch die höchste Steigerung der
sinnlichen Lüste und Genüsse wesentliche Nachtheile, welche
durch die getroffenen Gegenvorkehrungen (z. B. durch Kran-
kenhäuser, deren im 13. Jahrhundert an 19,000 in Europa
gezählt wurden, und durch Vermehrung der geistlichen Or-
den) nur theilweise gemindert werden konnten.
Auch im Ab end lande fanden Kreuzzüge Statt und
zwar gegen die heidnischen Slaven, insbesondere gegen die
. Wenden, welche zuletzt von Heinrich dem Löwen besiegt
wurden, und gegen die Preußen, die mit Hülfe des deut-
schen Ordens zum Christenthume - gebracht und 1283 dem
Orden unterworfen wurden. — Ebenso wurden auch Kreuz-
züge gegen Ketzer gepredigt, insbesondere gegen die
Albigenser im südlichen Frankreich (1209), bei wel-
cher Gelegenheit die Inquisition aufkam, ein geistliches
Gericht, das Jeden, der die Lehren und Einrichtungen der
Kirche nicht anerkannte, mit schweren Strafen, selbst mit
Feuer und Schwert, verfolgte (s. §. 78 u. 94).
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Extrahierte Personennamen: Heinrich_dem_Löwen Heinrich
Extrahierte Ortsnamen: Europa Christenthume Frankreich
§. 75. Die Ausbildung der Landeshoheit. 207
nahmen schrecklich überhand, und ein Theil der Ritterschaft
erniedrigte sich sogar zum Naubleben, und störte den Handel
und Wandel der betriebsamen Städter auf das empörendste:
weßhalb sich die Städte zum Schutze ihres Handels
in Bündnisse vereinigten, von welchen die 1241 gestiftete
mächtige Hansa (s. §. 76 a. E.) und der rheinische
Städtebund die wichtigsten wurden.
Daher schritten, als Richard gestorben war, die deutschen
Fürsten, theils um die Kaiserwürde bei Deutschland zu er-
halten, theils um der eingerissenen Unordnung zu steuern,
wieder zur Wahl eines Kaisers aus deutschem Geschlechte.
Um aber ihre unterdessen erworbenen Hoheitsrechte
behalten zu können und wo möglich sie noch zu vermehren,
lenkten sie die Wahl meist nur auf solche Männer, welche
der Kaisermacht nicht durch einen großen Länderbesitz Nach-
druck geben konnten.
Es folgen daher nun abwechselnd
1273—1437 Kaiser aus verschiedenen Häusern: zuerst
Rudolf, Graf von Habs bürg, der durch Handhabung
der Gerechtigkeit, besonders in Bestrafung der Raubritter,
die Ordnung in Deutschland herstellte, und im Kampfe mit
dem widerspenstigen König Ottokar von Böhmen seinem
Hause den Besitz der österreichischen Länder verschaffte,
den ihm die dputchen Fürsten wegen seiner Tapferkeit und
Redlichkeit gerne bewilligten, so daß er dadurch der Gründer
des habsburgisch-österreichischen Hauses wurde.
Ihm folgte (1291) Adolf, Graf von Nassau, der
im Kampfe für die Behauptung seiner Krone fiel, welche die
mit seiner Reichsverwaltung unzufriedenen Fürsten dem Sohne
Rudolfs Albrecht l (1293) übertragen hatten. Unter der
eigensüchtigen und verhaßten Regierung Albrecht's wurde
1308 zu der freien Eidgenossenschaft der Schweizer,
durch den Aufstand der drei Waldstädte Uri, Schwytz und
Unterwalden gegen die Übergriffe habsburgischer Herrschaft,
der Grund gelegt. Dieser Bund erstarkte bald im Kampfe mit
TM Hauptwörter (50): [T46: [Heinrich König Otto Kaiser Sohn Herzog Karl Ludwig Sachsen Jahr], T4: [Reich Zeit Staat Volk Deutschland Jahrhundert Land Macht deutsch Geschichte]]
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Extrahierte Personennamen: Rudolf Rudolf Ottokar_von_Böhmen Ottokar Adolf Adolf Rudolfs Albrecht
Extrahierte Ortsnamen: Deutschland Deutschland Nassau
§. 76. Die Kirche in ihrer tiefsten Erniedrigung. 211
Und so konnte denn Ruprecht's Nachfolger, Kaiser Si-
gismund, Wenzel's Bruder,
1414 das Concilium zu Constarrz zu Stande bringen, welches
die drei Päpste absetzte und den Grundsatz aufstellte, daß sich
der Papst den Beschlüssen einer allgemeinen Kirchenversamm-
lung unterwerfen müsse. Weil man aber vor der Abstellung
der übrigen Kirchengebrechen den neuen Papst wählte, der
alsdann von dem Concilium keine Verbesserungsvorschläge
annahm, so war zwar die (äußere) Einheit der Kirche, nicht
aber ihre Reinheit hergestellt.
Dazu kam, daß das Concilium selbst durch ein leiden-
schaftliches Urtheil den spätern Riß in der Kirche dadurch
vorbereitete, daß von ihm
14113 Johann Huh, der als Professor der Theologie zu Prag
gegen die Gewalt des Papstes und gegen verschiedene andere
Kirchenlehren aufgetreten war, zum Feuertode verurtheilt und
zu Constanz als Ketzer verbrannt wurde. Zunächst ent-
stand aus diesem Verfahren
14120—1436 der Hussitenkrieg, indem sich Hussen's Anhänger
in Böhmen im Aufruhr erhoben, unter ihren Anführern Ziska
und den beiden Procopius alle vom Kaiser und Reich und
Papst gegen sch aufgebotenen Heere schlugen, und einen großen
Theil Böhmens und aller umliegenden Länder auf das gräu-
lichste verwüsteten. Nur als das zu Basel wieder zusammen-
getretene Concilium den Forderungen der gemäßigten Partei
der Hussiten, der Calirtiner, nachgab, und diese dann selbst
sich gegen die fanatische Partei der Taboriten wendeten,
ward endlich die Ruhe wieder hergestellt.
Aus dem besseren Theile von ihnen entstund nachher die
böhmisch-mährische Bürgergemeinde, die unter man-
cherlei Verfolgungen ihren 'Glauben bewahrte, bis sie später-
hin zum Theil in die jetzt bestehende, vom Grafen Zinzendorf
gestiftete Brüder-Unität übergieng.
Alle Beschlüsse des Basler Conciliums aber, die auf Be-
schränkung der päpstlichen Macht gerichtet waren, verwarf
- der Papst und nahm ihnen für Deutschland durch neue Ver-
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TM Hauptwörter (50): [T27: [Kirche Luther Lehre Kloster Jahr Bischof Schrift Papst Reformation Wittenberg], T42: [Papst Kaiser König Rom Heinrich Italien Karl Kirche Bischof Jahr]]
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Extrahierte Personennamen: Johann_Huh Johann Hussen's_Anhänger Procopius